Was das Wuppertal Institut von der Oper lernen kann – Blick auf den Ämtertausch von Opern-Intendant Berthold Schneider und WI-Präsident Uwe Schneidewind

Zwischen dem 28.02. und dem 20.03.2019 tauschen der Leiter der Oper Wuppertal und der Präsident des Wuppertal Institutes ihre Chefbüros. Die Idee dazu entstand auf der Vorstellung des "Zukunftskunst"-Buches des Wuppertal Institutes am 02. Oktober 2018 in der Wuppertaler Oper. Nach einer anregenden Diskussion über das Verhältnis von Wissenschaft, Kunst und Nachhaltigkeit bot Berthold Schneider den jetzt stattfindenden Tausch an, um die gegenseitige Inspiration von Oper und Nachhaltigkeitswissenschaft auf anderer Ebene fortzuführen. Uwe Schneidewind nahm dieses Angebot gerne an.

 

Begleitet durch den Philosophen Christian Grüny sowie den Künstler und Organisationsentwickler Daniel Hoernemann entstand in den darauffolgenden Wochen die Konzeption des unter dem Titel "Wechsel/Wirkung" stehenden Tausches.

 

Aus der Perspektive des Wuppertal Institutes geht es im Kern um die Vertiefung der "Zukunftskunst"-Idee, nämlich darum, komplexe gesellschaftliche Transformationsprozesse durch und mit Perspektiven der Kunst besser zu verstehen.

 

Die Oper bietet hierfür viele Anknüpfungspunkte. Einige seien davon im Folgenden skizziert:

  • Drama, Dramaturgie, Inszenierung. Gerade die Mobilitätsdebatte der letzten Wochen und Monate um Grenzwerte, Fahrverbote, Tempolimits sensibilisiert examplarisch dafür, dass politische Diskurse zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen auch aus der Perspektive von Dramaturgie und Inszenierung verstanden werden müssen, und nicht alleine auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse erklärt werden können.  Wissenschaftlicher und dramaturgischer Blick ergänzen sich hier in wertvoller Weise.
  • Wissenschaft als Inszenierung. Auch der Wissenschaftsbetrieb selber folgt vielen festgelegten Inszenierungsregeln, auch wenn er diese oft leugnet. Der Oldenburger Kulturhistoriker Thomas Etzemüller weist auf diese Selbstinszenierungsmechanismen in seinen Arbeiten sehr treffend hin (vgl. z.B. https://volltext.merkur-zeitschrift.de/article/mr_2015_10_0031-0047_0031_01). Das Verständnis dieser Mechanismen ist wichtig, wenn Wissenschaftseinrichtungen die bestehenden Inszenierungsformen herausfordern (z.B. durch eine verstärkte Gesellschaftsorientierung). Dann lässt sich viel lernen aus den Erfahrungen z.B. eines Opern-Publikums auf eine moderne und ungewohnte Inszenierung eines lange etablierten Stückes.
  • Komposition – Improvisation. Kunstformen bewegen sich im Spannungsfeld von Komposition und Improvisation. Dieses Wechselspiel von vorher Geplanten, eindeutig Komponierten und dem spontanen Improvisieren begleitet auch viele sozial-ökologische Veränderungsprozesse. Ökologische Transformation vollzieht sich zwischen "komponierten" wissenschaftlichen Szenarien und Gesetzen sowie politischen Regeln und vorher nicht antizipierten (sozialen und technischen) Innovationen und Experimenten, aber oft auch schwer kalkulierbaren politischen Stimmungen. Die Oper ist ein per se durch Komposition geprägter Kunstraum (anders als z.B. der Jazz). Ähnliches gilt für die Wissenschaft mit ihren klaren methodischen Regeln der anerkannten Wissensproduktion. Wo liegen Freiheitsgrade bei der Inszenierung von Opern, wie stark lassen sich bestehende Ordnungsrahmen aufbrechen? Inwiefern lässt sich das auf die Wissenschaft übertragen? Die während des Ämtertausches laufende John Cage Oper "Europeras I und II", die mit vielen Regeln der Opern-Komposition bricht, liefert zu diesen Fragen hoch interessantes Anschauungsmaterial für den Transformations- und Wissenschaftsdiskurs.
  •  Emotionalität, Authentizität, Wahrhaftigkeit, Resonanz, Energie.  Der Lüneburger Nachhaltigkeitswissenschaftler Harald Heinrichs sensibilisiert dafür, dass Nachhaltigkeits-orientierte Transformationsprozesse nicht alleine Wissens-basiert verstanden werden können. Es braucht vielmehr eine Nachhaltigkeitswissenschaft, die die multisensorische und körperliche Realität menschlicher Existenz abbildet. Dies könne gerade eine Kunst-basierte Forschung leisten (vgl. https://www.mdpi.com/2071-1050/11/3/769). Phänomene wie Emotionalität, Authentizität, Wahrhaftigkeit, Resonanz oder personaler, organisatorischer und gesellschaftlicher "Energie" werden damit greifbar. Auch hier zeigt der Blick auf aktuelle politische Debatten, dass diese Phänomene für politische Entscheidungen oft dominanter als eine wissenschaftliche Faktenlage sind.
  •  Zeitlosigkeit und Zeitgemäßheit von Erzählungen. Die Oper als fast 400 Jahre altes künstlerisches Format ist immer wieder mit dem Spannungsfeld von Zeitlosigkeit und Zeitgemäßheit konfrontiert. Gleiches gilt für den Nachhaltigkeitsdiskurs. Er greift grundlegende Motive von Menschenrechten und globalen sozialen Zusammenlebens auf, muss diese aber immer wieder in sich verändernden Konstellationen ökologischer Fakten, technischer, ökonomischer und politischer Möglichkeitsräume zur Geltung bringen. Wie sehen zeitgemäße Inszenierungen von zeitlosen Erzählungen aus? Auch hier kann Nachhaltigkeitswissenschaft von Oper lernen.

Neben solchen grundlegenden Motiven bietet das Wechselspiel von Oper und (Nachhaltigkeits)wissenschaft auf weiteren Ebenen vielfältige Anregungen und Diskussionsimpulse

  • Zielgruppen von Oper und Wissenschaft. Die "Produkte" von Oper und Wissenschaft sind in aller Regel voraussetzungsvoll. Oper und Wissenschaft erreichen daher im Regelfall nur ein kleinen Ausschnitt der Gesellschaft mit ihrer Arbeit unmittelbar. Lässt sich dieser Wirkraum ausweiten ohne die Qualitätskriterien und den genuinen Charakter von Wissenschaft und Oper zu gefährden? Was heißt das für die Formen und Methoden der "Produktion", was für die Anforderungen an Künstler und Wissenschaftlerinnen? Die Ausweitung ihrer Wirkräume beschäftigen derzeit sowohl Wissenschaft (z.B. unter Stichworten wie Citizen Science oder "transformativer Wissenschaft") als auch Oper – nicht nur in Wuppertal. Der Ämtertausch bietet interessante Chancen zum besseren Verständnis des Spannungsfeldes.
  • Nützlichkeit und inhärente Qualität. In einem engen Zusammenhang dazu steht das Spannungsfeld von "Nützlichkeit" und "inhärenter Qualität". Wie weit kann unmittelbare ökonomische und gesellschaftliche Verwertung von Wissenschaft und Kunst gehen? Ab wann ist die inhärente Qualität beider Bereiche gefährdet? Woran lässt sich das festmachen? Wie sehen gute Erprobungsräume zum Auslauten des Spannungsverhältnisses aus?
  • Finanzierungsbedingungen für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Der Freiheit von Wissenschaft und Kultur kommt ein besonderer gesellschaftlicher und verfassungsrechtlicher Rang in offenen demokratischen Gesellschaften zu. Die Finanzierungsbedingungen für Wissenschaft und Kultur sind jedoch sehr unterschiedlich. Sie führen nicht zuletzt auch zu sehr verschiedenen Bedingungen ökonomischer Prekarität von Wissenschafts- und Kunstproduktion (auch nochmals differenziert nach Wissenschafts- und Kunstgattungen). Woran misst sich eigentlich, für welche Form der Wissenschafts- und Kunstproduktion welches (öffentliche) Geld bereit stehen sollte? Was lässt sich aus dem Vergleich der Mechanismen und Kriterien im Kunst- und Wissenschaftssektoren für eine wissenschafts- und kunstpolitische Debatte zu den Finanzierungsbedingungen lernen?
  • Operngebäude als Begegnungsorte. Opern sind mehr als funktionale Aufführungsorte für eine Kunstgattung. Sie sind wichtige architektonische und städtebauliche Bezugspunkte. Sie sind im besten Fall Identifikations- und Begegnungsort für Stadtgesellschaften und ihre Einzugsgebiete. Gebäude für den Wissenschaftsbetrieb folgen dagegen meistens einer stärkeren funktionalistischen Logik. Im Falle des Wuppertal Institutes ergibt sich eine Sondersituation: Untergebracht in einer alten Textilschule des 19. Jahrhunderts direkt am zentralen Bahnhofsplatz Wuppertals (dem "Döppersberg") kann man das Institutsgebäude auch als eine Art "Wissenschaftsoper" verstehen. Was heißt das für die Nutzung des Gebäudes für die Prozesse der Stadtgesellschaft?

 

Dies sind nur erste Impressionen und Verbindungen, die sich im Rahmen der Vorbereitung des Ämtertausches ergeben haben. Sie machen schon deutlich, wie vielfältig der Anregungsraum Oper für eine wirkungsorientierte Wissenschaftseinrichtung wie das Wuppertal Institut sein kann. Der Ämtertausch verspricht daher nicht nur Impulse auf der individuellen Ebene der die Ämter tauschenden Führungskräfte, sondern auch für die Reflexion in den Organisationen sowie für die darüber hinausgehende gesellschaftliche wissenschafts- und kulturpolitische Debatte.

 

Die Begleitung und die intensive Auswertung und Reflexion des Ämtertausches sollen gewährleisten, dass die gemachten Erfahrungen nicht nur von den beiden Institutionen genutzt werden können, sondern auch Anregungen für vergleichbare Brückenschläge regional und überregional geben.

 

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