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Ausgangssperre und Stromsperre zusammen geht gar nicht!

Ein Gastbeitrag von Oliver Wagner, Co-Leiter des Forschungsbereichs Energiepolitik der Abteilung

Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik im Wuppertal Institut

 

Jetzt, wo das öffentliche Leben quasi auf Null gesetzt ist, gewinnt das Telefon in meinem Leben einen neuen Stellenwert. Ich rufe Verwandte und alte Freunde an und bekomme auch Anrufe von Freunden, die man sonst getroffen hätte oder mit denen man schon länger nichts mehr zutun hatte. So rief mich gestern auch ein alter Schulfreund an, nur so, um sich zu erkundigen. Er ist Vertrauenslehrer an einer Realschule im Einzugsgebiet eines sozialen Brennpunkts in Essen. Er erzählte mir dann vom letzten Tag mit den Schüler*innen, bevor der reguläre Schulbetrieb eingestellt wurde. Die meisten freuten sich über die bevorstehende schulfreie Zeit, doch es gab auch Kinder, die geweint haben, dass sie nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Nicht, weil sie so wissbegierig sind und die Schule als Lernort vermissen werden, sondern weil die Schule für sie ein Schutzraum ist. Ein Raum, in dem alles mehr oder weniger funktioniert: Es gibt Licht, im großen Klassenzimmer ist es warm, es gibt in der Mensa eine warme Mahlzeit und bis auf kleinere Rangeleien in der Pause, ist Schule ein mehr oder weniger gewaltarmer Ort. 

 

Ganz anders sieht es für viel zu viele Kinder da zu Hause aus, wo ökonomische Probleme häufig den Alltag prägen. Einen Beitrag dazu leisten auch die Energie- und vor allem die Stromkosten. Viele Familien haben so viele Stromschulden angehäuft, dass der Energieversorger ihnen den Strom gesperrt hat. Die Familie wohnt beengt, es ist kalt, weil auch die Heizung ohne Strom nicht funktioniert. Herd und Kühlschrank funktionieren natürlich auch nicht. Beim Licht kann man sich mit Kerzen behelfen, doch insgesamt ist die Situation angespannt und birgt viel Konfliktpotenzial. Auch Fernseher und andere Unterhaltungsgeräte, die von der prekären Situation ablenken und so zeitweise für Entspannung sorgen können, sind nicht einsatzbereit. Für die betroffenen Kinder verschärft sich hierdurch die schwierige Situation. Die anderen Kinder bekommen jetzt ihre Lernaufgaben per Internet übermittelt, doch ohne Strom kann das Mobiltelefon nicht aufgeladen werden, das Internet funktioniert natürlich auch nicht. 

 

Sie denken, das passiert vielleicht anderswo, aber nicht hier, mitten in Deutschland? Und wenn doch, betrifft es doch nur eine sehr kleine Minderheit? Mitnichten! Jedes Jahr werden in Deutschland rund 300.000 Stromsperren vollzogen. Das klingt technisch, dahinter verbergen sich aber fast genauso viele soziale Dramen wie oben beschrieben.

 

In einem 2017 abgeschlossenen Projekt hat das Wuppertal besondere Untersuchungen zum Thema Energiearmut gemacht. In diesem Projekt wurde für das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen erstmals in Deutschland eine wissenschaftliche Befragung von Haushalten mit so genannten Prepaidzählern durchgeführt und die Ergebnisse analysiert. Erst seit kurzem wird das Phänomen der Energiearmut in Deutschland auch in den Medien häufiger aufgegriffen und gelangt nur langsam in das Bewusstsein von Entscheidungsträger*innen. In anderen Ländern, beispielsweise in Großbritannien, ist Energiearmut schon seit längerer Zeit auf der politischen Agenda. Entsprechend  ist die Verbreitung technischer Lösungen, wie Prepaidzähler, hierzulande noch gering und Erfahrungen damit daher rar. Doch die Studie belegte eindeutig, dass es an einem Ordnungsrahmen fehlt, der Haushalte vor Stromsperren und hohen Gebühren schützt. 

 

Was hat das nun mit der Corona-Krise zu tun? Kinder aus Haushalten mit geringem Einkommen haben es ohnehin in vielerlei Hinsicht schwerer als andere, erst recht, wenn der Strom abgestellt ist. Und gerade ältere Menschen sind einer Stromsperre oft völlig hilflos ausgeliefert. 

 

Es ist schön, dass die Bundesregierung nun mit viel Geld „die Wirtschaft retten“ will. Es ist aber auch höchste Zeit, dass sie schleunigst ein Verbot von Stromsperren erlässt. Wer ohnehin schon beengt wohnt, der braucht in diesen Zeiten zumindest eine intakte Stromversorgung, mit der zentrale Grundbedürfnisse befriedigt werden können. Das betrifft nicht nur Haushalte mit Kindern und alte Menschen, aber diese ganz besonders. Allen Menschen, die zuhause bleiben müssen, muss der Strom sofort wieder angeschaltet werden. Hoffnung gibt, dass eine Reihe von Energieversorgern wegen der Corona-Krise aktuell keine Stromsperren durchführen. Das ist gut so und muss deutlich ausgeweitet werden, denn Ausgangssperre und Stromsperre zusammen, das geht gar nicht!

 

Projektinformation „Guthabenzahlung für Strom: Studie über den Breiteneinsatz von Prepaid-Zählern“

https://wupperinst.org/p/wi/p/s/pd/652/

 

Referierte Publikation aus diesem Projekt: 

Wagner, O., & Wiegand, J. (2018). Prepaid-Stromzähler: Erfahrungen aus der NutzerInnen-Perspektive von Haushalten in Deutschland. Momentum Quarterly - Zeitschrift Für Sozialen Fortschritt, 7(2), 86. doi: 10.15203/momentumquarterly.vol7.no2.p86-97

Verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:wup4-opus-70921

 

Der Autor dankt seinen Kollegen Johannes Thema und Florin Vondung für ihre wertvollen Hinweise bei der Erstellung dieses Beitrags.